Viel hilft viel?
Eine der häufigsten Fragen, die man sich als Anfänger, aber auch als Fortgeschrittener, stellt lautet: “Wieviel muss ich üben?” Und die Diskussionen darüber sind oft leidenschaftlich – wie generell in Musik und Gesang.
Als ich selbst noch völlig ahnungslos war, lernte ich kurzzeitig bei einem Bariton, dessen Gesang mir ziemlich gut gefiel. Er war der Meinung, dass ein angehender Profi täglich 5 (!!!) Stunden Gesang üben müsse, um wirklich gut werden zu können.
Weil er ein Profi war und gut, wie ich damals fand, glaubte ich ihm und übte fortan jeden Tag 5 Stunden, naja zumindest versuchte ich möglichst nah an die 5 Stunden heran zu kommen. Ich hatte nämlich zu dieser Zeit einen 8-Stunden-Job bei einer angesehenen Großbank (ich meine aber nicht bei mir angesehen).
Vollzeitjob und Übe-Marathon
Jedenfalls schälte ich meinen völlig übermüdeten Körper mitten in der Nacht aus der Koje (etwa um 5:30 in der Früh`), um dann einen völlig überfüllten Zug zu besteigen und mit weiteren völlig übermüdeten Figuren meinem aus meiner Sicht völlig sinnfreien Tagwerk nachzugehen.
Als ich dann Abends natürlich noch viel müder nach Hause kam, ging ich sofort in meinen Übungsraum und begann zu brüllen, was das Zeug hielt!
Tonleitern auf und ab, immer und immer wieder die selben hohen Stellen aus diversen Arien geübt und aufgenommen, damals noch auf Kassette, später dann auf DAT-Kassette.
Etwa eine Stunde und ein paar 100.000 Stimmlippen-Schwingungen später fand ich mich zum Abendessen ein. Obwohl mein Körper schlafen wollte (und meine Stimme schon lange), zwang ich mich danach mit eiserner (aber nicht unbedingt sinnvoller) Disziplin, den Proberaum erneut aufzusuchen.
Die selben hohen Töne, die selben Stellen aus den Arien und immer wieder mit Aufnahmen von Nicolai Ghiaurov, bis heute meinem Lieblingsbass, verglichen.
Wenn ich dann endlich heiser und müde genug war, ging ich ins Bett, um den ganzen Unsinn am nächsten Tag zu wiederholen.
Ich war nicht alleine (so doof)!
So oder so ähnlich, wie es jeden Tag tausende Sänger auf der ganzen Welt tun. In der irrigen Annahme, dass viel auch viel hilft, brüllen sie sich die Seele aus dem Leib und verstehen nicht, dass das nicht nur sinnlos, sondern sogar kontraproduktiv ist. Im schlimmsten Fall sogar den Verlust der Stimme bedeuten kann.
Aber so schlau war ich damals noch nicht, Anfang bis Mitte der 90.er.
Endlich Profi!
Irgendwann schaffte ich es dann tatsächlich trotzdem, mein erstes Engagement zu bekommen. Wie, weiß ich bis heute nicht. Manchmal muss man auch ein bisschen Schwein haben. Jetzt ging´s erst richtig los: Keine Bank mehr, hurra!
Nur noch Musik machen und singen mit ganz tollen Leuten. Hey, ich war Profi. In den Pausen von Proben und Vorstellungen übte ich für mich selbst. “Bis Blut” kommt, hat ein Kollege, der besser durchblickte als ich, damals bemerkt.
Die ständige dezente Heiserkeit und den leichten Druckschmerz ignorierte ich. Ich betrachtete es wie einen Muskelkater, der meinen Körper dazu bringen würde, meine Stimme “größer” zu machen. Dass Singen eher Eiskunstlaufen als Bodybuidling ist, wusste ich damals noch nicht.
Fahrradfahren statt Bodybuilding
Aber meine Stimme und mein Körper wussten es. Irgendwann wurden die Probleme so massiv, dass ich über 2-4 Jahre mehr schlecht als recht sang und teilweise das Gefühl hatte, ich könnte es überhaupt nicht mehr.
Den Bezug zu dem, was ich eigentlich immer konnte – “schön leise” singen, z.B. Elvis-Balladen, hatte ich auch weitgehend verloren.
Ich war gefangen in einer Mischung aus Selbstverleugnung und Unkenntnis über das Wesen des Singens.
Glaubst Du mir?
Wenn mir damals jemand erzählt hätte, was ich gerade versuche, Dir hier zu erzählen, hätte ich ihn vermutlich für verrückt erklärt. Zumindest hätte ich ihm nicht geglaubt.
Als Anfänger machst du noch so viele Fehler, dass deine Stimme schon nach kurzer Zeit Ermüdungserscheinungen zeigt, wenn du hoch oder laut singen übst.
Diese Ermüdungserscheinungen sind gefährlich und verhindern, dass deine Stimme im feinmotorischen Bereich Fortschritte macht.
Bevor du also sinnvoll weiter üben kannst, musst du deiner Stimme genug Ruhe geben, um sich wieder zu regenerieren.
Wenn du permanent heiser bist oder Halsschmerzen hast und darauf weiter herum singst, wirst du das Singen nie lernen!
“Singen denken”, statt Singen üben …
Was Du aber immer machen kannst: Dich mit Gesang zu beschäftigen!
Über Gesang nachdenken!
Hör Dir gute und schlechte Sänger an!
Hör Dir Deine eigenen Aufnahmen an!
Trainiere Dein Gehör in Bezug auf Tonhöhen und Rhythmische Genauigkeit!
Aber stimmliche Koordination kannst Du nur trainieren und dabei Fortschritte machen, wenn du gesund bist und die Stimme ausgeruht ist. Sobald sie müde wird, hör auf!
Das ist schwer, wenn man ehrgeizig ist, ich weiß!
“Mikrofonstimme” geht immer!
Leise und in Sprechstimmlage kannst du viel länger üben. Hohe und laute Töne aber oft nur wenige Minuten lang, bevor es an die Substanz geht.
Ich habe in den 80ern stundenlang als Alleinunterhalter gespielt und fast jedes Lied gesungen. 5-8 Stunden genauer gesagt und mit wenigen Pausen. Mit Mikrofon geht das, wenn man nur in leiser Sprech-Lautstärke singt. In “Ruflautstärke” jedoch wäre das undenkbar.
Mein Beweis nach fast 30 Jahren
Jetzt, im Mai 2015, da ich diesen Artikel schreibe und diesen Podcast spreche, habe ich für mich den Beweis erbracht, dass auch “Hochleistungs-Singen” reine Balance ist und kein Muskeltraining:
Ich bin nämlich gerade in Elternzeit und habe in den letzten 4 Monaten so gut wie gar nicht gesungen. Trotzdem singe ich hohe und laute Töne wie niemals zuvor, wenn ich es mal probiere. Wenn das von Muskeln abhängig wäre, hätten die längst alle Kraft verloren, wie ein Arm im Gips.
Fahrradfahren aber verlernt man nicht und um genau so etwas geht es beim Singen. Unter anderem!
Fazit
Auch “hoch und laut” ist beim Singen lernen keine Kraft-Übung, sondern reine Balance und Koordination. Wenn Du Dir täglich die Seele aus dem Leib übst, wirst Du das Singen nicht oder nicht richtig lernen. Wie in kaum einer anderen Disziplin gilt beim Singen: Weniger ist mehr! Also entspann Dich!